Ein erdähnlicher Planet

Ein erdähnlicher Planet

– Aufstehen, es ist Zeit!

„War es doch ein Fehler, den Wecker mit Papas Stimme zu programmieren? Nein!“ – Rachel streckte sich kurz und sprang aus dem Bett. Die übliche Morgenroutine umfasste Kraft- und Dehn-übungen, die Dusche, ausgewogenes Frühstück aus dem 3-D-Drucker. Vor dem Verlassen ihrer Kabine schaute sie sich im Spiegel an – eine schlanke, für eine Frau ziemlich hochgewachsene Gestalt in tadelloser Uniform, mittelblonde Haare zu einer strengen Frisur hoch gesteckt, blaue Augen ganz dezent geschminkt… Rachel Binks war bereit für ihren Dienst als Forscherin!

Die Aufregung im Hauptlabor breitete sich aus und gewann gleichzeitig an Tiefe – heute war das kein Sprudeln, wie bei einer erfolgreichen Bohrung, sondern eine umfassende Welle.

– Guten Morgen!

– Guten Morgen, Mr. Tyber! – sie lächelte aufrichtig.

Der breitschultrige Leiter der Wissenschaftsabteilung lächelte zurück:

– Na, bereit für Erkunden und Entdecken?

– Selbstverständlich, Sir!

– Gut. Wir bekamen Bestätigungen von anderen Sonden – dieses Riesending, das im ganz nahen Orbit einen dauerhaften Sonnenbad nimmt, ist tatsächlich eine Lebensform.

– Das ist erstaunlich, Sir!

– Das ist noch sehr gelinde ausgedrückt, die „Ziolkowski“ wird wohl in den Geschichtsbüchern erwähnt. Wir werden natürlich diese Lebensform untersuchen, aber Sie haben einen anderen Auf-trag… keine Sorge, Sie bleiben nicht hier, das wäre ja eine unverdiente Strafe! – sein Lächeln wurde noch breiter. – Sie bekommen Ihre erste eigene Außenmission – Erkundung des vierten Planeten dieses Sonnensystems. Er ist erdähnlich, was im gestrigen Tumult übersehen wurde, Sie wissen bestimmt, wie selten und wertvoll solche Planeten sind. Sind Sie mit dem entsprechenden Protokoll vertraut?

– Selbstverständlich. Besteht die Möglichkeit des ersten Kontaktes?

– Miss Binks, doch nicht bei Ihrer ersten Mission! Ich schätze Ihren Eifer, aber die registrierten Lebenszeichen und andere Daten weisen nicht auf vernunftbegabte Lebewesen hin. Natürlich kann niemand ausschließen, dass eine oder sogar einige Arten sich auf dem Weg zu der Vernunft befin-den…

– Ich verstehe, Sir.

– Sie bekommen alle notwendige Ausrüstung, und Pilot Cannelly begleitet Sie auch als Arbeits-kraft.

– Ich kenne ihn nicht persönlich.

– Ja, er ist einer unserer Neulinge, frisch von der Akademie. Ich weiß, Sie arbeiten sehr gern mit Dickmann, – Tyber grinste verschmitzt, – aber den brauche ich selbst.

Innerlich verzog Rachel das Gesicht – war ihre Zuneigung zu Fred Dickmann dermaßen offen-sichtlich? Dieser riesige Wikinger, der nicht nur die Weltraumflotte, sondern auch die Leinwand zieren würde, kam ihrem persönlichen Ideal von einem Mann ziemlich nah.

Sie antwortete knapp:

– Ich danke Ihnen, Sir.

– Dann viel Erfolg!

Rachel nickte und ging zu ihrem Arbeitsplatz, wo ein Techniker bereits auf sie wartete – „Frisch von der Akademie und schon ein Pilot, so-so… Tja, dann packen wir unsere Führungsqualitäten aus!“.

In der angegebenen Andockbucht sah Rachel einen Shuttle, den die Techniker emsig wie Amei-sen beluden, und am Cockpit einen jungen Mann in der Pilotenuniform. Sie ging direkt auf ihn zu.

– Guten Tag, sind Sie Cannelly?

Er drehte sich zu ihr:

– Guten Tag, ja, Ma‘am.

Beim Anblick ihres neuen Untergebenen musste Forscherin Binks sich ins Gedächtnis rufen, dass Kapitän MacFerson immer sehr sorgfältig die neuen Crewmitglieder für „Ziolkowski“ aus-suchte. Der Pilot war zwei oder drei Zentimeter kleiner als sie selbst, untersetzt – nicht dick, so was kam auf den Raumschiffen nicht vor, aber richtig stämmig. Er hatte dunkle Haare und Augen, wirkte sonnengebräunt, aber das war keine Bräune vom Strand oder von einer Sonnenbank… ja, jetzt hatte sie es! Er sah wie ein Bauer aus. In einem traditionellen karierten Hemd auf einem Feld oder zwischen den Obstbäumen würde er viel passender wirken, als in dieser Uniform.

Cannelly stand ruhig unter dem prüfenden Blick.

– Sind Sie auch ein guter Pilot?

– Ich bemühe mich, einer zu sein, Ma‘am, aber mir ist bewusst, dass ich noch viele Erfahrungen sammeln muss.

– Und wurden Sie von unserer Mission unterrichtet? („Verdammt, warum frage ich das – natür-lich weiß er, worum es geht!“)

– Ja, Ma‘am, – der Tonfall des Piloten blieb unverändert.

Binks nutzte den kurzen Flug, um die wichtigsten Daten des Planeten anzuschauen – achtund-zwanzig Prozent Sauerstoff in der Atmosphäre, Anziehungskraft nur um einen Drittel höher, als auf der Erde, volle Umdrehung in einundzwanzig Komma zwei Stunden… Anders als bei der Erde hatte die Achse keine Neigung, und somit gab es keine Jahreszeiten. Der voll beladene Shuttle landete sanft an der errechneten Position mit der Lufttemperatur um die fünfundzwanzig Grad Celsius, üppiger Vegetation und vielen Wasserquellen in der Nähe.

Die provisorische Unterkunft aus Leichtmetall und Plastikfolien war ein technisches Meister-werk. Die aus den Klammern befreite Konstruktion richtete sich von alleine auf, dann begannen viele Kartuschen, das gespeicherte Argon in die Zwischenräume der Wände zu blasen, und die Isolierung entstand gleich mit. Ein halbwegs starker Windstoß hätte dieses „Kartenhaus“ ins Rollen gebracht, aber es sollte nicht leer bleiben – die beträchtliche Menge von wissenschaftlichen Geräten würde für die notwendige Bodenständigkeit sorgen.

Binks betrat die Unterkunft als erste und schaute sich um. Zwei kleine Schlafkabinen mit eben-falls aufblasbaren Betten erinnerten fast an Käfige, aber Binks störte das nicht – Hauptsache, der Raum für die Geräte und Arbeitsflächen war groß genug. Der vierte Raum bat Platz für einen Tisch, zwei Stühle und einen Regal für den 3-D-Drucker und was man sonst auf einer Mission so brauchen konnte.

Mit Hilfe von den Plattformen mit regulierbaren Gravitation konnten die Forscherin und der Pilot die komplette Laboraustattung und zuletzt die größten Brocken, die autonome sanitäre Einrichtung und den Kraftfeldgenerator, ohne nennenswerte Probleme entladen und aufstellen. Gleich nach dem schnellen Überprüfen der Geräte begann das emsige Zusammentragen der Luft- und Bodenproben, sowie das Einordnen von gewonnenen Daten. Cannelly erwies sich als belastbar und gelehrig, Binks war fast froh, ihn dabei zu haben. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten sprach der Pilot kaum, während die Forscherin begeistert redete, bis ihr Essen kalt wurde und sie es wieder aufwärmen musste.

Am nächsten ebenfalls tüchtig angegangenen Tag ertönte kurz vor dem Mittagessen eine ver-zerrte, aber erkennbare Stimme aus dem Kommunikator:

– Rachel! Rachel, verdammt nochmal, antworte!!!

– Ja, Mr. Tyber! – noch nie hatte ihr hoch geschätztes Vorbild so mit ihr gesprochen!

– Kehre sofort zurück! Lass alles stehen und liegen, schnapp‘ dir nur den Piloten – diese verdam-mte Kreatur ist nicht mehr bei der Sonne, sondern ist unseren Sonden gefolgt und zieht uns im Affenzahn den Saft ab!! Wir sind noch hier im Orbit, leiten aber den Notstart ein, du kannst…

– Mr. Tyber! – rief Binks verzweifelt, weil der Empfang rapide schlechter wurde und jetzt nur noch ein Rauschen zu hören war. – William!!!

– Ma‘am, die Verbindung ist abgebrochen.

– Dann stellen Sie sie wieder her!

Cannelly hantierte mit dem Gerät und meldete dann:

– Würde ich gerne, aber es liegt nicht an uns.

Sie richtete sich kerzengerade auf:

– Los, bringen Sie uns zurück!

Er rührte sich aber nicht, sondern sagte nach kurzer Pause:

– Bei allem Respekt, Ma‘am, ich rate dringend davon ab.

– Das war ein direkter Befehl, Pilot!!

– Das ist korrekt. Aber wenn das Lebewesen der ganzen „Ziolkowski“ ihre Energie abziehen kann, wird es wahrscheinlich auch unseren Shuttle als zusätzliches Happen betrachten.

Binks schlug mit der Faust auf die nicht besonders stabile Wand – verdammt, dieser Anfänger hatte Recht! Sie kämpfte um ihre Selbstbeherrschung, fragte dann:

– Was schlagen Sie vor?

Er dachte nach und antwortete:

– Wir sollten schon los fliegen, aber in der Atmosphäre bleiben, möglichst nah an unser Schiff kommen und es ausführlich scannen.

– Und warum so?

– Weil wir hier bis jetzt nichts von der Lebensform mitgekriegt haben. Vielleicht kann sie sich in der Atmosphäre nicht bewegen oder erwartet hier keine Nahrung, uns kann beides Recht sein.

Nach einer kurzen Pause fragte Binks:

– Cannelly, hatten Sie in Ihrem Leben mit Tieren zu tun?

– Ja, – er wunderte sich offensichtlich, – warum wollten Sie es wissen?

– Nicht so wichtig… Ich stimme Ihrem Vorschlag zu, führen Sie es aus!

– Ja, Ma‘am.

Sie sprangen gleichzeitig in die offenen Türen des Shuttles, jeder an seine Seite.

Die Luft wurde immer dünner, das war schon an dem tieferen blauen Ton des Himmels zu merken, aber der Shuttle war immer noch weit entfernt von der Dunkelheit des Weltalls.

Nach einer Weile meldete der Pilot:

– Wir befinden uns direkt unter unserem Schiff und können diese relative Position halten.

– Gut. Fangen Sie mit dem Scannen an!

Cannely befolgte den Befehl. Nach einigen Minuten blickte er gerade aus, durch die klare Hülle des Cockpits, fluchte kurz, und konzentrierte sich wieder auf seiner Arbeit.

– Was ist??? – fragte die Forscherin ungeduldig.

Er hob in einer geradezu autoritären Geste die freie Hand, und antwortete nach zwei oder drei Minuten:

– Die „Ziolkowski“ ist so tot, wie ein Schiff es nur sein kann. Keine Energie. Null.

– Also auch nicht in den Lebenserhaltungssystemen?

Cannelly presste die Zähne zusammen und nickte.

– Und Lebenszeichen?

– Viele. Anscheinend zieht das Riesending nicht die elektromagnetischen Wellen von anderen Lebewesen ab, möglicherweise, weil sie zu schwach sind.

Nach einer Pause fügte er hinzu:

– Übrigens, in einigen Hunderten Kilometern von Schiff befinden sich zwei Shuttles, ebenfalls ohne jegliche Energie.

– Sie wollten bestimmt den Angreifer irgendwie ablenken oder bekämpfen, vielleicht rammen, da er wahrscheinlich die Strahlen unserer Waffen oder die Ladung der Photonentorpedos einfach auf-isst… Das ist nebenbei der Beweis, dass dieses Ungeheuer auch Shuttles als seine Beute sieht – Sie hatten Recht, Pilot.

– Ich freue mich nicht darüber, Ma‘am.

– Es geht nicht um Emotionen, sondern lediglich darum, dass wir beide durch Ihren Einspruch noch handlungsfähig sind.

Er neigte den Kopf.

Nach einer Weile sprach Binks wieder:

– Was können wir tun? Ohne die Energie können wir nicht einmal an Bord des Schiffes gelangen, die Andockbuchten und Schleusen sind zu…

Cannelly sagte mit dumpfer Stimme:

– Ma‘am, wir können gar nichts tun, außer die Aufmerksamkeit der Kreatur auf uns zu lenken. Wenn Sie einen solchen Befehl geben, bin ich bereit, ihn auszuführen.

Sie schüttelte energisch den Kopf:

– Diesen Gefallen will ich dem Biest nicht tun, und Sie hoffentlich auch nicht!

– Deswegen sprach ich von einem Befehl.

– Verstanden. Was machen wir also jetzt, Ihrer Meinung nach?

Der Pilot warf einen unsicheren Blick, und die Forscherin erhöhte leicht ihre Stimme:

– Sie machten schon einmal einen brauchbaren Vorschlag – ich erwarte weitere.

Er nickte und sagte nach einer kurzen Pause:

– Dann schlage ich vor, dass wir zu unserem Lager zurückkehren und in etwa acht Stunden die Lage erneut überprüfen.

– Warum… – und sie verstummte. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass er den Todeskampf der ganzen Mannschaft nicht durch die Sensorendaten mitbekommen wollte. Wenn die Lebenserhaltung nicht mehr lief, würden in acht Stunden alle sicher tot sein, denn die Rettungskapseln oder die Raumanzüge mit eigenem Sauerstoffvorrat waren unerreichbar, wenn die automatischen Türen einfach nicht aufgingen. Wenn aber irgendeine Möglichkeit der Rettung bestand, wäre es möglich, von dem Shuttle aus beim erneuten Scannen die Lebenszeichen finden können.

– Führen Sie das aus, Pilot.

– Ja, Ma‘am, – und der Shuttle machte eine scharfe Kurve.

Die abgemachten Stunden, nur von dem Mittagessen unterbrochen, das sie aus reiner Disziplin in sich gestopft haben, schienen schier unendlich. Binks konnte nicht arbeiten; sie überprüfte und säuberte Laborgeräte, was gar nicht nötig war, da sie eh kaum benutzt wurden, fegte sogar den Boden des provisorischen Laborraums. Als es langsam dunkel wurde, hielt sie das Warten nicht mehr aus und suchte mit dem kleinen Scheinwerfer nach Cannelly, der sich die ganze Zeit draußen aufhielt. Er prüfte gerade, wohl nicht zum ersten Mal, die Anzeichen des Kraftfeldzauns.

Er blickte sie an. Sie gab mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie nichts zu beanstanden hatte, stellte die Lichtquelle ab und fragte unerwartet für sich selbst:

– Haben Sie ein Hobby?

Er wunderte sich offensichtlich, antwortete aber:

– Ja, Ma‘am. Überlebenstraining.

– Wirklich? Das war wohl eine weise Voraussicht.

Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, fügte sie schnell hinzu:

– Entschuldigen Sie.

Er nickte und sagte nach einer Pause:

– Und welches Hobby haben Sie, wenn ich fragen darf?

Sie blickte zur Seite und antwortete:

– Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht.

– Die Exobiologie?

– Habe ich das jemals erwähnt?

– Nein, Ma‘am, aber ich habe den Plan, welchen Sie an Ihrem Arbeitsplatz aufgehängt haben, gesehen; Ihr Interesse zu diesem Planeten hatte offensichtlich keinen geochemischen, klimatolo-gischen oder ähnlichen Schwerpunkt. Ich glaube, Sie hofften, hochentwickelte Lebensformen zu entdecken.

– Sie haben eine gute Beobachtungsgabe.

– Manchmal ist sie eben überlebenswichtig.

Binks schwieg eine Weile und sagte dann entschlossen:

– Ich will jetzt dieses Small Talk beenden.

Cannelly zuckte mit den Achseln:

– Wenn ich bemerken darf, Sie haben damit angefangen, Ma‘am.

– Richtig. Ich suche für mich eine sinnvolle Beschäftigung, Sie tun das Gleiche, bis wir, wie be-schlossen, nochmals in die Nähe von „Ziolkowski“ fliegen.

Der Pilot presste die Zähne zusammen, stieß dann ein kurzes „aye, Ma‘am“ aus und ging in die Dunkelheit.

Stunden später saßen beide zutiefst niedergeschlagen im Cockpit des durch die oberen atmo-sphärischen Schichten gleitenden Shuttles. Kein Lebenszeichen. Nichts. Die „Ziolkowski“ wurde zu einem Massengrab. Von der ungeheuerlichen Kreatur war nichts zu merken, aber Binks traute sich nicht, dem Schiff noch näher zu kommen. Wozu auch?

Nach einer Weile sagte sie heiser:

– Fliegen Sie uns zurück. Oder wollen Sie noch auf irgendeine Weise Abschied nehmen?

Cannelly schüttelte düster den Kopf und wendete.

Als der Shuttle etwas holprig landete, sagte Binks, und ihre eigene Stimme kam ihr dabei völlig fremd vor:

– Ich ruhe mich aus, und Sie haben frei.

Der Pilot nickte.

Sie verschloss sich in ihrer Kabine, warf sich auf das Bett und heulte.

Da die Schallisolierung der provisorischen Unterkunft nicht perfekt war, zog Cannelly es vor, wieder nach draußen zu gehen. Er blickte in den klaren fremden Himmel mit vielen Sternen und genehmigte sich dann einen großen Schluck aus der Feldflasche, die er trotz strenger Verbote an Bord des Shuttles geschmuggelt hatte.

– Passt bloß auf bei euren Wünschen, denn sie könnten in Erfüllung gehen, – sagte er leise und trank nochmals seinen Grappa. Er wollte schon immer ein Entdecker und Pionier werden, aber das hier, der ganze menschenleere Planet, war entschieden zu viel des Guten. Und so viele Menschen waren jetzt tot… er kannte sie kaum, nahm aber an, dass es gute Menschen waren, mögen sie in Frieden ruhen.

Er schüttelte traurig den Kopf, und trank wieder. Immerhin war die Ausrüstung viel reicher, als auf seinen früheren Reisen.

Und dann war noch die Frau an seiner Seite, genau genommen war er an ihrer Seite. Etwas instabil, aber geübt in Selbstbeherrschung… unter gegebenen Umständen hielt sie sich ganz gut, allerdings konnte nur die Zeit zeigen, ob sie die Situation wirklich packen konnte. Neben all dem war die Forscherin Binks recht angenehm anzuschauen…

– Ich könnte es auch viel schlimmer erwischen, – so fasste Cannelly seine Überlegungen zusam-men, schraubte die Feldflasche sehr sorgfältig zu und begab sich möglichst leise zu seinem Schlaf-platz. Aber er legte sich nicht gleich hin, sondern kniete und betete zuerst, so wie die Mutter ihn in seiner Kindheit gelehrt hatte. Wenn Gott überall war, dann auch in diesem fremden Himmel.

Am nächsten Tag trafen Binks und Cannelly sich zur üblichen Stunde in dem Essraum, obwohl sie schon lange davor wach war.

Nach knapper Begrüßung sagte die Forscherin mit fester Stimme:

– Cannelly, wir müssen der Realität in die Augen schauen – wir sind wohl auf diesem Planeten gestrandet, und ich zähle Ihre Erfahrungen, die Sie erwähnten, zu unseren Ressourcen.

– Sie sind stets zu Ihren Diensten.

– Gut. Dann machen Sie eine Liste unserer Materialien, ausgehend von diesem neuen Blickwin-kel, und ich kümmere mich um das Logbuch.

– Darf ich einen Vorschlag machen, Ma‘am?

– Ich höre.

– Es wäre besser, wenn Sie die Liste der vorhandenen Materialien machen, da Sie sich mit ihnen auch besser auskennen, und ich mache die Liste von dem, was wir brauchen werden, eben aus Erfahrung. Es sind viele Dinge, an die man normalerweise nicht denkt, solange kein Bedarf besteht, wie zum Beispiel Scheren, Nadeln und Fäden…

– All das haben wir bereits, in dem chirurgischen Set für die Experimente an Tieren.

Der Pilot lächelte:

– Genau das habe ich gemeint, Ma‘am.

– Ich gebe Ihnen Recht. Machen wir die Listen und gleichen sie dann ab. So wie ich das sehe, müssen wir in erster Linie Energie sparen und das drucken, was wir wirklich brauchen.

Der Untergebene nickte.

Die Liste von Cannelly überraschte Binks an einigen Stellen – er hatte sogar an „Damenhygiene-mittel“ gedacht! Medikamente, Werkzeuge, Kleidung, Wasch- und Putzmittel waren nachvollzieh-bar, aber das Koch- und Essgeschirr? Der 3-D-Drucker lieferte doch immer automatisch das Pas-sende mit!

Auf die Frage gab der Pilot eine unerwartete Antwort:

– Ma‘am, das Drucken von Fleisch und Fett ist besonders energieaufwendig, da sie selbst gute Energiequellen sind, aber wir sind hier auf einem Planeten mit vielen Tieren, die uns alles Nötige liefern können.

– Wollen Sie etwa auf die Jagd gehen??

– Genau das.

– Aber dann geht die Energie der Impulswaffe drauf!

– Nein, Ma‘am. Ich mache mit meinem Messer Pfeile und einen Bogen.

– Das ist unmöglich Ihr Ernst.

– Doch. Aus Sicherheitsgründen nehme ich den Kommunikator mit.

– Zumindest ist das eine vernünftige Idee, – murmelte die Forscherin.

– Ma‘am, habe ich Ihre Erlaubnis, mich zu entfernen?

Sie nickte etwas unwillig, er salutierte und ging.

In weniger als einer Stunde meldete Cannelly sich per Kommunikator:

– Ma‘am, ich schlage vor, dass wir uns ungefähr hundert Meter nach Süden von der Unterkunft treffen, dort ist eine weite Wiese.

– Und warum nicht hier?

– Ich weiß nicht, ob es hier größere Aasfresser gibt, will sie aber im Zweifelsfall nicht zu uns locken.

– Verstanden.

Sie kamen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen, und der Pilot warf von seiner Schulter einen sehr zotteligen dunklen Körper, ungefähr so groß, wie ein mittlerer Hund:

– So, ich weiß nicht, was das ist, aber nach den Angaben des Multiscanners hatte es keine für vernunftbegabte Wesen typischen Gehirnwellenmuster und ist essbar. Wir können vor dem Haus eine Feuerstelle einrichten und es braten…

Binks lachte auf. Als sie seinen fragenden Blick sah, sagte sie eilig:

– Oh, entschuldigen Sie bitte, aber ich musste an eine Stelle in einem alten Buch denken. In einem Märchen von Hoffmann bekommt ein Professor für Naturwissenschaften verschiedene Tiere, darunter auch seltene, aus allen möglichen Ecken des Landes, und isst dann diese Tiere gebraten, um ihre Natur zu erkunden.

Cannelly lachte auch:

– Ja, das passt!

Er kniete im Gras, nahm sein Messer und zog mit sicheren Bewegungen dem Tier das Fell ab. Plötzlich fragte er:

– Interessieren Sie sich für die Literatur?

Seine Worte und Handlungen passten aus ihrer Sicht gar nicht zusammen, so dass sie sich sam-meln musste, um zu antworten:

– Ja, ich mag einige Autoren des neunzehnten Jahrhunderts – wissen Sie, aus der Zeit vor den Computern. Diese Menschen waren in gewisser Weise sehr naiv, aber andererseits verstanden sie viel von der menschlichen Natur, die meiner Meinung nach seit Jahrtausenden ihre Grundzüge be-halten hatte.

– Interessant, – er wischte seine blutigen Hände an einem Tuch. – Würden Sie mir mal mehr davon erzählen?

– Natürlich, – ihr entfuhr ein Seufzer. – Zeit haben wir ja.

Cannelly packte Fleisch, Fett und Fell in wasserdichte Pakete und dann in die Abteilungen seines Rucksacks, den Rest des Kadavers ließ er liegen, und erst da wurde Binks klar, dass das für sie gewohnte Entsorgen wiederum viel Energie verbrauchen würde. So viele Sachen mussten überdacht oder neu gelernt werden…

Als sie die Unterkunft betraten, sagte die Forscherin mit einem gewissen Stolz:

– Ich habe die Zeit auch genutzt.

Sie zeigte auf den Tisch voller Früchte von seltsamen Formen und Farben:

– Nach Angaben des Multiscanners ist das alles essbar, und meiner Meinung nach ist einiges davon sogar schmackhaft.

– Das ist ausgezeichnet, Ma‘am!

– Danke.

Cannelly probierte langsam und bedächtig eine Frucht nach der anderen und rief plötzlich:

– Das ist wirklich gut! Ist stärkehaltig wie eine Banane, wenn auch nicht ganz so süß, also sätti-gend.

Binks lächelte:

– Sie wachsen auch wie Bananen, ganz oben auf dem Baum neben der Wasserquelle.

Der Pilot runzelte die Stirn:

– Waren Sie also hoch auf dem Baum?

– Natürlich.

– Wenn ich bemerken darf, das war unvorsichtig.

– Ich bin schon als Kind auf die Bäume geklettert.

– Das waren ganz andere Bäume und etwas andere Schwerkraft; außerdem haben Sie die letzten Jahren nicht in der Natur, sondern auf den Raumschiffen verbracht.

– Ich treffe selbst die Entscheidungen! – ihre Augen flackerten zornig auf.

– Ma‘am… – er atmete tief ein. – Ich weiß, dass Sie die Entscheidungen treffen und die Befehle erteilen, aber ich bitte Sie, nicht alleine irgendwohin zu klettern, wo Sie runter fallen könnten.

– Und wenn Sie dabei sind, werden Sie mich auffangen?

Er beachtete ihre Ironie nicht, rieb nachdenklich sein Kinn und antwortete:

– Nicht unbedingt, ich darf mir auch nicht den Rücken verreißen oder so was ähnliches… Aber durch gezielte Bewegungen kann ein anderer Mensch den Aufprall erheblich abschwächen, wenn er weiß, wie das geht – und ich weiß es.

Da begriff sie, dass er sich tatsächlich Sorgen um sie machte. Nach einer Pause sagte sie in einem ganz anderen Tonfall, ernst und freundlich:

– Ich verstehe, Cannelly.

– Danke, Ma‘am.

Das Fleisch des zotteligen Tieres schmeckte sowohl gebraten als auch gekocht. Der Pilot grub außerdem verschiedene Wurzeln aus, die Forscherin untersuchte sie mit dem Multiscanner, und innerhalb weniger Tage stellten sie einige Kochrezepte zusammen. Dabei lernte auch Binks das Kochen an der offenen Feuerstelle, seitdem machten sie das abwechselnd. Die Zeit nach dem Abendessen war für die Erholung gedacht, Binks erzählte, wie versprochen, das Märchen „Der kleine Zaches, genannt Zinnober“ von Hoffmann, dann noch andere Geschichten, und Cannelly hörte gerne zu.

Diese kleinen Erfolge nahmen zumindest einen Teil der Anspannung von Binks, und eines Abends fragte sie:

– Cannelly, wie alt sind Sie?

Er hob die Augenbrauen:

– Das wissen Sie doch – dreiundzwanzig, wie alle Absolventen der Weltraumflottenakademie.

Sie blickte kurz zur Seite, sagte dann:

– Vielleicht wollte ich, dass Sie im Gegenzug fragen, wie alt ich bin.

– Verzeihung. Wie alt sind Sie, Ma‘am?

– Siebenundzwanzig Jahre.

Sie erwartete, dass er ihr ein Kompliment machen würde, wie jung sie immer noch aussah, weil sie wusste, dass das auch stimmte, aber er sagte nur:

– Sie haben viel erreicht in dieser Zeit.

– Ja, aber jetzt war alles umsonst.

– Das würde ich so nicht sagen. Die Fähigkeit, Probleme zu erkennen und anzugehen, durch die Rückschläge nicht den Mut zu verlieren und das Ziel immer im Auge zu behalten, ist in allen Le-benslagen wertvoll.

– Danke, – sie wunderte sich insgeheim und war sich nicht einmal sicher, worüber.

Einige Tage später sagte der Pilot:

– Ma‘am, ich bitte um die Erlaubnis, mich zu entfernen – mit dem Kommunikator.

– Was haben Sie vor?

– Ich möchte etwas ausprobieren und im Falle des Misserfolgs nicht berichten.

– Gut, Sie haben meine Erlaubnis.

– Danke, Ma‘am. Und ich bräuchte noch eine Beobachtungsdrone sowie ein Messgerät und noch Einiges aus dem Labor.

– Sie machen mich richtig neugierig… ja, Sie können über die Ausstattung verfügen.

– Nochmals danke. Ich werde einige Stunden brauchen, kann noch nicht Genaueres sagen.

– Melden Sie sich nach drei Stunden, unabhängig von dem Erfolg Ihres Vorhabens.

– Aye, Ma‘am.

Pünktlich zu genannter Zeit ertönte Cannellys Stimme aus dem Kommunikator:

– Ma‘am, ich bitte Sie, dazu zu kommen.

Binks fand ihn dank der Ortungsfunktion des Kommunikators auf einer Lichtung, die gut einen Kilometer von der Unterkunft entfernt war, er fragte als Erstes:

– Hören Sie etwas, Ma‘am?

– Nein, sollte ich?

Cannelly machte eine Kopfbewegung zum Messgerät, das mehrere Dezibel anzeigte. Binks überlegte einige Sekunden und fragte:

– Ultraschall?

– Genau das.

– Aber wozu?

– Gleich werden es sehen – Vorsicht bitte, hier ist eine Grube.

Drinnen sprang ein schwarzes Tier, ungefähr so groß wie ein Schaf, aber mit stattlichen Zähnen und Klauen, die Wände an. Seine Ohren waren im dichten Fell kaum auszumachen, dafür aber blitzten die vier Augen, zwei an jeder Seite der länglichen Schnauze, aus welcher ununterbrochen Knurren und Fauchen kam.

– Das ist das gefährlichste Tier, das ich mit Hilfe der Drone beobachten konnte.

– Und wie haben Sie es gefangen?

– Indem ich den Impuls der Waffe deutlich geschwächt habe.

Die Forscherin lächelte, es gefiel ihr, dass der Pilot zwar an das Sparen der Energie dachte, aber flexibel genug war.

– Sie sehen recht zufrieden aus, Cannelly, aber wozu das alles?

– Eine große Menge der Energie verwenden wir für den Kraftfeldzaun – ich habe experimentiert, wie wir die hiesigen Tiere auf einfachere Weise von uns fernhalten können. Das würde zwar bedeuten, dass ich für die Jagd viel weitere Strecken zurücklegen müsste, aber das ist kein Problem.

– Jetzt ist mir alles klar! – sie nickte. – Sie haben die Frequenzen gefunden, die für das Tier unangenehm sind, für uns aber nicht hörbar, und das muss der Ultraschall sein, denn das Gegenteil, der Infraschall, bereitet den Menschen Unbehagen.

Cannelly kratze verlegen seine Nase:

– Hätte ich das früher gewusst, hätte ich nicht nur dem Tier, sondern auch mir selbst einiges erspart. Ich habe nämlich mit dem Infraschall angefangen.

– Die sehr tiefen Laute bedeuten in der Natur immer eine Gefahr – entweder die Näherung von einem sehr großen Tier oder eine Bewegung von riesigen Massen, wie bei einem Erdbeben, einem drohenden Vulkanausbruch, oder auch bei einem heranrollenden Tsunami. Und den Ultraschall, den zum Beispiel die Fledermäuse zur Ortung ihrer Beute nutzen, nehmen wir gar nicht wahr.

– Das ist gut verständlich.

Cannelly schaltete den Ultraschallsender aus, beobachtete zwei oder drei Minuten das Tier, welches nun am Boden kauerte, und fragte plötzlich:

– Ma‘am, was glauben Sie, warum dieser Zeitgenosse so viele Augen hat?

– Wahrscheinlich aus Gründen der Redundanz.

– Ma‘am?

– Oh, entschuldigen Sie – Redundanz ist so was wie Überfluss. Der Organismus verfügt dabei über Organe, die nicht die ganze Zeit notwendig sind, aber bei einer Verletzung oder Krankheit die Überlebenschancen erheblich steigern. Aus diesem Grund hat jeder von uns zwei Nieren… wussten Sie, das es im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert Menschen gab, die einem kranken Verwandten eine ihrer Nieren spendeten?

– Nein, das wusste ich nicht, – er schüttelte sich unwillkürlich.

– Wenn ein Mensch eins seiner Augen verliert, dann verliert er auch das dreidimensionale Sehen. Bei diesem Zeitgenossen dagegen, – Binks schmunzelte über die Bezeichnung, – würde der Verlust von einem Auge wahrscheinlich nur den Blickwinkel etwas beeinträchtigen, und das Sehvermögen gar nicht.

Nach einer Pause fragte sie:

– Wollen Sie dieses Tier auch als Fleischlieferanten benutzen?

– Nein, es hatte zu viel Stress bei meinen Experimenten, ich lasse es laufen. Ich habe gelernt, dass das Fleisch am besten ist, wenn es dem Tier vorher gut ging und es gar nicht merkte, wie es getötet wurde.

Binks nickte. Sie überlegte noch, wie wollte der Pilot das gestresste Tier aus der Grube holen, aber das ging ganz einfach: er steckte den Stamm eines jungen Baumes rein, das Tier schlug seine Zähne sofort rein und ließ sich so wie ein großer Fisch an der Angelschnur rausziehen. Weder auf dem sicheren Boden, fletschte es die gelben Zähne, knurrte nochmals (Binks merkte, wie ihr Unter-gebener seine Hand auf die Waffe legte) und flüchtete dann in langen Sprüngen zu den großen Bäumen.

Plötzlich sagte Cannelly:

– Apropos Fleischlieferant – seine Augen habe ich gar nicht gezählt! Irgendwie schien ganz selbstverständlich, dass es zwei sein müssen.

Binks nickte.

Als der Ultraschallsender in Betrieb genommen wurde, entlastete er tatsächlich den Generator. Die Forscherin bedankte sich bei dem Piloten in aller Form und vermerkte das in dem Logbuch.

Nach einer Woche sprach sie ihn an:

– Cannely, ich will nicht zu persönlich werden, aber den Anzeigern der sanitären Kabine nach haben Sie in den letzten Tagen die Dusche nicht benutzt.

Er lächelte:

– Das ist korrekt, Ma‘am, ich habe mir eine andere, energiesparende Hygienemöglichkeit organisiert.

– Darf ich sie sehen?

– Selbstverständlich.

Die Einrichtung am Rande einer großen Waldlichtung war simpel, aber effektiv – hinter einem eher dürftigen Sichtschutz saß in einer Astgabelung eines stattlichen Baumes ungefähr zwei Meter über dem Boden ein dickbäuchiger Wasserbehälter aus dunkler Folie, und eine einfache Hand-brause ging von ihm nach unten, jetzt hing sie an einem abgebrochenen Zweig. Ein anderer Zweig diente als Tuchhalter.

Der Pilot erklärte:

– Ich fühle das Wasser in der Früh auf, die Sonne erwärmt es tagsüber und wenn sie schon unter-geht, passt die Temperatur.

Nach einer Pause lächelte er erneut:

– Wenn Sie wünschen, mache ich eine solche Dusche auch für Sie – am anderen Ende der Lichtung… und mit besserem Sichtschutz.

– Ja, bitte.

Zwei Tage später meldete der Pilot:

– Die Dusche für Sie ist fertig, ich empfehle, sie ungefähr eine Stunde vor dem Sonnenuntergang zu benutzen.

Die Forscherin nickte:

– Danke, Cannelly.

– Sehr gerne, Ma‘am.

Beim Anblick der neuen Waschmöglichkeit musste Binks lächeln – der Pilot gab sich hier deutlich mehr Mühe als für sich selbst, und das nicht nur bei dem Sichtschutz. Auf dem Boden lag ein Gitter aus dicken Latten, das die Füße von dem Kontakt mit der nassen Erde bewahren sollte, und der Abfluss war tiefer. Sogar der Wasserbehälter war größer, der Erbauer hatte wohl an die langen Haare seiner Vorgesetzten gedacht.

Rachel war noch nie nackt in der Natur, und sie fand es schön, wie das warme Wasser nicht nur auf sie, sondern auch auf die Blätter des Baumes spritzte und glitzerte, und sie zum Rascheln brachte. Sie hob ihren Arm und beobachtete, wie die Wassertropfen runterrutschten, wie die Haut den nassen Glanz verlor und matt wurde, dann aber im erneuten Wasserstrahl funkelte … für so was hatte sie seit ihrer Kindheit nie Zeit gehabt!

Eigentlich auch in der Kindheit nicht. „Nutze die Zeit!“ war das Motto der Eltern, und Rachel befolgte es. Schule, Tutoren, Sport, die wie im Stein gemeißelten Aufgaben im Haushalt, Kosmetik-studio – sie fand kaum die Möglichkeiten, ihre Freundinnen zu treffen. Dieses Tempo behielt sie auch in der Akademie, und mindestens eine Beziehung zerbrach daran, vielleicht eine andere auch, das war nicht sicher.

Jetzt fühlte Rachel sich von der Zeit umgeben, wie von der Luft mit ihrem großzügigem Sauer-stoffgehalt und vielen Düften…

Ihre Gedanken schlugen um, als sie auf ihren Körper ohne die Uniform herunterblickte. Nie-mand war da, um ihr Anweisungen zu geben – auch das war zum ersten Mal in ihrem Leben, denn sie verbrachte die Urlaube immer bei den Eltern. Und Cannelly konnte nur raten und bitten… „Armer Junge“, – dachte sie plötzlich und wunderte sich darüber, er war weder ein Junge noch arm dran, zumindest nicht mehr als sie selbst.

Erst als die Sonnenstrahlen verschwanden und die Luft fing an, abzukühlen, rieb Rachel sich fest mit dem Handtuch ab, zog sich an und ging zur Unterkunft. Zu ihrer Überraschung hatte Cannelly bereits eine dicke Suppe gekocht, obwohl er nicht an der Reihe war. Als sie seinen fragenden Blick sah, lächelte sie und sagte:

– Das war eine gute Idee, danke. Und für das Essen auch.

Er lächelte ebenfalls:

– Gern geschehen.

Sie merkte, dass er das gewohnte „Ma‘am“ ausließ, fand es aber irgendwie in Ordnung.

Binks dachte zwei Tage nach und sagte dann nach dem gemeinsamen Abendessen:

– Wir sind die einzigen Menschen im Umkreis von mehreren Lichtjahren.

– Davon gehe ich auch aus, – Cannelly erwartete offensichtlich, was nach dieser Feststellung kommt.

Sie lächelte:

– Da ich nicht nur ranghöher, sondern auch, wie wir festgestellt haben, älter bin, schlage ich ein „du“ vor. Ich bin Rachel, – sie reichte ihm die Hand.

Er lächelte auch:

– Und ich bin Antonio, aber Toni gefällt mir besser, – sein Händedruck war angenehm kräftig.

– Gut, Toni.

– Freut mich, Rachel. Freut mich wirklich.

Seitdem wurden die Gespräche persönlicher; unter anderem fragte Rachel:

– Du hast gesagt, du hattest mit Tieren zu tun?

Toni nickte:

– Und zwar aus nächster Nähe. Meine Eltern leben in Calabrien und betreiben dort eine Schwei-nezucht nach althergebrachten Art, mit Stroh und allem Drum und Dran, nur die Schlachtung ist schonender als in früheren Zeiten. Das bringt gutes Geld, die Stammkunden wissen die Qualität des Fleisches zu schätzen, und ich habe viel dabei geholfen, aber das ist kein Beruf für mich. Ehrlich, ich habe nichts gegen die Schweine, die ganz kleinen Ferkelchen sind sogar niedlich, doch mein ganzes Leben diesen Tieren zu widmen… – er schüttelte den Kopf. – Zum Glück hat niemand von mir erwartet, dass ich den Familienbetrieb übernehme, das macht mein großer Bruder. Aber die Eltern würden mich schon gerne als einen Mitarbeiter behalten.

– Also bist du das zweite Kind?

– Nein, ich bin Nummer Vier.

– Du meine Güte… wie viele seid ihr denn insgesamt?

– Sechs. Zwei Schwestern, die rivalisierenden Königinnen, am selben Tag geboren, und wir, vier Brüder.

– Du sagst es so, als wären die Brüder das Fußvolk.

– So haben wir uns auch gefühlt. Den Tag, an dem die beiden Schwestern heirateten, feierten wir vier vor allem als Befreiung von ihrer Herrschaft.

– Haben sie denn auch am gleichen Tag geheiratet??

– Ja. Keine wollte der anderen die Ehre überlassen, als Erste unter die Haube zu kommen.

Rachel schüttelte staunend den Kopf, und Toni fragte:

– Magst du auch was von dir erzählen?

– Oh, ich bin die mittlere von drei Schwestern, und unsere Eltern arbeiten an einer Schule in einer kleinen Stadt in England.

„Das erklärt einiges“, – dachte Toni.

In der entstandenen Pause lachte er plötzlich und erklärte, worüber:

– Die Prinzessin und der Schweinehirt. Du wunderst dich – ja-ja, ich weiß auch ein bisschen was von der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, die Märchen von Andersen wurden in meiner Familie hoch geschätzt. Wir sind katholisch, und den Eltern und Großeltern gefielen diese Vor-stellungen von Gut und Böse sehr.

Rachel murmelte:

– Meine Familie hatte nie etwas mit Religion zu tun…

– Das ist auch in Ordnung, sie sind bestimmt hochmoralische Leute.

– Oh ja.

Er schaute abwartend, aber sie sagte nichts mehr. Dann fragte er:

– Und hast du Haustiere gehabt?

– Nein, die Eltern waren dagegen, und an der Akademie hatte ich keine Zeit dafür… Aber meine jüngere Schwester hatte einen Mann geheiratet, der eine Katze hatte, und die habe ich gestreichelt, wenn ich sie besuchte.

– Wir hatten auch eine Katze, die wollte nur mit der Mutter schmusen, aber wenn die Kätzchen da waren, dann reichten sie für alle.

Bei einen anderen Gelegenheit fragte Rachel:

– Wenn deine Eltern dich nicht unterstützten, wie bist du denn auf die Akademie gekommen?

– Da hatte ich Glück, in dem Verein der Überlebensreisender habe ich einen hohen Offizier der Weltraumflotte kennengelernt, er machte mit mir einige Tests, bereitete mich dann auf die Prüfun-gen vor und verhalf zu einem Stipendium. Ich bin sicher, das Ganze hat ihm Spaß gemacht.

– Ein Verein? Ich dachte immer, solche Menschen begeben sich ganz alleine in die Wildnis.

– Das ist richtig, aber ein Mensch ist immer noch ein soziales Wesen, und nach den überstande-nen Strapazen will er gerne mit den Gleichgesinnten reden, Erfahrungen austauschen, Tipps und Tricks, und so weiter. Wir Minderjährigen waren an einer Hand abzuzählen, die Erwachsenen waren immer sehr gut zu uns.

– Und wie kamst du nach all dem mit der Disziplin der Weltraumflotte zurecht?

– Erstaunlich gut. Vielleicht habe ich mich vorher genug ausgetobt, oder war die Autorität der Ausbilder überzeugender als die der Eltern und Lehrer, ich weiß es nicht.

Nach einer Pause fragte Rachel:

– Aber wie bist du überhaupt zu dem Überlebenstraining gekommen?

– Eigentlich spontan. Mit vierzehn kaufte ich mir einen kleinen Zelt, packte am Freitag nach der Schule meinen Rucksack und sagte, dass ich Sonntag Abend wieder da sein werde. Später, als ich mich sicherer fühlte, ging ich auch in den Ferien weg.

– Und deine Eltern haben es dir einfach so erlaubt??

– Sie wussten schon immer, dass sie mir nichts verbieten können. Frag jetzt aber nicht, wie es dazu gekommen war! Ich weiß es nicht mehr.

– Arme Eltern.

– Oh, ich war nicht das Sorgenkind der Familie. Mein Bruder Giakomo, der nächste nach mir, hatte den Eltern viel mehr Kummer bereitet.

– Was hat er denn getan?

– Auf irgendwelche Wände geschmiert, gestohlen, einiges angezündet…

– Du meine Güte!

– Ja. Giakomo hatte nie etwas einem Menschen oder einem Tier angetan, aber fremdes Eigentum war in seiner Nähe echt nicht sicher.

Nach einer Pause fragte Rachel:

– Und weißt du, warum er so was anstellte?

Toni zuckte die Achseln:

– Er sagte, das macht ihm einfach Spaß. Na ja, schließlich landete er in einem Jugendknast, und die ganze Gegend atmete erleichtert auf.

Sie schwiegen eine Weile, dann fragte er:

– Und wie bist du zu der Raumflotte gekommen?

– Eine Schwester meiner Mutter war bereits eine Lieutenant Commandor mit dem Arbeitsplatz auf der Brücke, als ich zehn oder zwölf Jahre alt war. Sie hatte keine eigene Familie, kam immer in ihren Urlauben zu uns. Mit Tante Peggy konnte man echt Pferde stehlen! Wunderst du dich über den Ausdruck?

– Nein, ich nehme an, dass er passt… Ich habe nur gedacht: du und deine Schwestern, die Schwester deiner Mutter – werden denn bei euch nur Mädchen geboren?

Sie dachte kurz nach und lachte:

– Das stimmt! Siehst du, und mir war das nie aufgefallen. Also, Tante Peggy fand für mich erst-klassige Tutoren, weil sie der Meinung war, dass die Akademie das Richtige für mich wäre, und zwar nicht die eigentliche Weltraumfahrt, sondern die Forschungsabteilung.

– Das durfte auch stimmen.

Rachel war sich dessen nicht mehr so sicher, widersprach aber nicht.

Einige Tage später sprach Toni ungewöhnlich ernst:

– Rachel, ich habe eine Bitte.

– Was denn? – sein Tonfall hat sie beunruhigt.

– Kannst du eine Weile alleine in der Unterkunft sein?

– Das war ich doch vorher auch.

– Nein, ich meine, ganz alleine, so, dass ich gehe und keinen Kommunikator mitnehme.

– Und was hast du vor?

– Ich muss mich abreagieren, – er atmete geräuschvoll ein und aus. – Am besten im Wald.

– Wenn du dich über mich ärgerst…

– Nicht über dich… ich will nicht darüber sprechen, nur sicher sein, dass du zwei, vielleicht auch drei Stunden hier bleiben kannst.

Sie nickte, er sagte kurz: „Danke“, machte sofort kehrt und ging. Aber sie machte sich Sorgen und folgte ihm deswegen in sicherer Entfernung.

Toni ging zielstrebig zwischen den Bäumen und Büschen, brach ab und zu Zweige ab und warf sie auf den Boden, und schließlich blieb auf einer Lichtung stehen. Dann traute Rachel ihren Augen nicht – ihr Gefährte suchte einen nicht besonders dicken Baum aus und fing an, ihn mit bloßen Händen in kleine Stücke zu zerlegen. Nach einigen Minuten fluchte er, nahm eine Feldflasche aus der Tasche, schmierte etwas von dem Inhalt auf die Hände, zischte durch die zusammengepressten Zähne und stürzte sich wieder auf den Baum, diesmal mit Händen und Füßen. Rachel sah seinen Gesichtsausdruck und konnte nicht glauben, dass dieser Mann mit ihr seit mehreren Tagen unter einem Dach wohnte, dass er einen Dienstgrad in der Weltraumflotte hatte – das war ein Wilder! Sie zog es vor, gleich zurückzukehren und so zu tun, als hätte sie nichts gesehen. Unterwegs fragte sie sich: „Wenn er schon mit Verletzungen rechnete, warum nutzte er nicht ein normales Desinfekt-ionsmittel – wozu diese Barbarei?“. Aber sie hatte keine Antwort, nur dass es möglicherweise ein Teil des „Abreagierens“ war. Hinter ihrem Rücken hörte Rachel noch ein Gebrüll, das zwar von einem Menschen kam, aber genauso gut aus der Kehle eines großen Tieres stammen könnte.

Innerhalb der genannten Zeit war Toni wieder da. Er lächelte, fragte, ob es Rachel gut ginge… und sie konnte diese Wandlungen immer noch nicht fassen. Sie blickte auf seine geschundenen Hände – er lächelte nochmals, zuckte mit den Achseln und ging zum Arzneischrank.

Toni ging es sichtlich besser, Rachel aber nicht. Die erlernten meditativen und verhaltensthera-peutischen Praktiken halfen kaum, und schließlich brach sie bei einem gemeinsamen Abendessen in Tränen aus.

Toni fragte besorgt:

– Ist was passiert?

Sie schrie:

– Weißt du nicht, was passiert ist???

– Ah, das alles… Natürlich, weine es von der Seele los. Ich habe kein Problem damit.

– Du verstehst nichts! Du verstehst GAR NICHTS!!!

– Dann erzähl.

– Du warst erst kurz da, aber ich habe auf unserem Schiff zwei Jahre verbracht! Und es waren gute Jahre! Dort hatte ich Freundinnen – Barbara, Mayra, Agnes, und noch andere! Und dort war auch Fred, ich meine, Forscher Dickmann!

Toni hob die Augenbrauen, sagte aber nichts, und Rachel ratterte weiter:

– Er kam fast gleichzeitig mit dir, wurde auf seinen eigenen Wunsch von der „Kepler“ versetzt! Ich muss immer wieder denken – wäre er nur dort geblieben, dann wäre er am Leben!

Und sie heulte weder los.

Nach längerem Schweigen fragte Toni:

– Hast du Fred geliebt?

– Ach, ich weiß nicht, ob es Liebe war! Aber er hat mir sehr gut gefallen, ja!

– Verstehe. Und Mr. Tyber – William?

– Doch nicht so! – sie schüttelte heftig den Kopf. – Er war verheiratet, hatte zwei Kinder, er hatte mir ihre Bilder gezeigt… Mein Gott, das alles ist vorbei! Ein für allemal vorbei! Und ich hocke hier mit dir ohne geringste Aussichten auf Rettung! Ich kann nicht einmal einen Notrufsignal senden – entweder es wird von dem Ungeheuer aufgefressen oder führt es direkt zu uns!

Toni nickte. Er wartete einige Minuten ab, während sie sich bemühte, nicht mehr zu weinen, und sagte dann ruhig:

– Komm her.

Als sie sich nicht rührte, zog er sie behutsam an sich.

Sie fragte unsicher:

– Was willst du?

– Dass du dich nicht alleine fühlst.

Da umarmte sie ihn und flüsterte:

– Danke, Toni… Danke.

Am nächsten Abend warf sie einen unsicheren Blick auf ihn, und er machte wortlos die Arme breit. Ja, diese körperliche Nähe spendete ihr Trost; das war ungewohnt für Rachel, denn früher umarmte sie ohne irgendwelche Romantik nur ihre Schwestern und Freundinnen. Toni fühlte sich anders an… aber nicht weniger gut.

Dann begann das eigentliche Einrichten an ihrem neuen Wohnort. Rachel hatte sogar die Idee, ob die gedruckten Nüsse und Sonnenblumenkerne sich als Saatgut eigneten – Toni hielt es für sehr unwahrscheinlich, behielt aber diese Gedanken für sich und half ihr sogar, die Beete anzulegen.

Eine andere Idee von Rachel hatte er dagegen begrüßt und machte ein großes Gehege für meh-rere mittelgroße Pflanzenfresser, ebenfalls mit vier Augen – das war tatsächlich eine bessere und sicherere Fleischquelle als die Jagd. Zuerst waren die „Karnickel“, wie sie kurzerhand genannt wurden, richtig unruhig, wenn der Ultraschallsender eingeschaltet war, aber Rachel manipulierte das Gehör der Tiere in diesen Frequenzen, und seitdem fraßen sie friedlich, hoppelten, bildeten Paare und ließen es sich gut gehen.

Beim Bedarf an Fleisch nahm Toni ein Paar aus dem Gehege, vergewisserte sich schnell, ob das Weibchen trächtig war (in diesem Fall nahm er ein anderes Paar) und ging mit ihnen aus der Sicht-weite sowohl von anderen Karnickel als auch von Rachel. Er konnte nie begreifen, warum sie für wissenschaftliche Zwecke mit Tieren alles Mögliche anstellen konnte, aber die fachgerechte Schlachtung sich zu Herzen nahm – sie sagte zwar nichts, aber das war ihr deutlich anzusehen, und Toni akzeptierte das als eine Tatsache.

Nach einiger Zeit fand Toni auch die Möglichkeit, die Felle der Karnickel zu gerben, und mit diesen weichen Unterlagen und Wandbehängen wurde die Unterkunft erheblich wohnlicher.

Bei einem der üblichen abendlichen Gesprächen fragte Rachel:

– Hast du eine Freundin?

– Jetzt nicht mehr… ich meine, wir haben uns kurz nach den Abschlussprüfungen getrennt.

– Es tut mir Leid.

– Muss es nicht. Sie war in meiner Gruppe, ich dachte, wir wären ein gutes Team, aber im letzten halben Jahr der Ausbildung hatte sie immer weniger Interesse für die praktischen Sachen, wie Flie-gen oder Wartung, dafür immer mehr für das Verwaltungszeug. Dann bekam sie, noch als Kadett, einen Job in der Administration der Weltraumflotte, wollte auch mich dorthin ziehen, aber ich wusste gleich nach dem Abschluss, dass der alte MacFerson mich auf „Ziolkowski“ nimmt, und ich somit schon in ein Paar Wochen aufbrechen werde. Meine Freundin sagte, dass sie nicht auf mich warten wird. So einfach war das.

– Warte mal, ich habe noch nie gehört, dass jemand so von dem Kapitän spricht!

– Na ja… wir haben uns auch privat kennengelernt. Das war die Idee von dem Offizier, der mich in die Weltraumflotte geholt hatte, Treffen der Generationen oder so was ähnliches. Die Beiden waren alte Freunde.

– Nicht schlecht.

Nach einem kurzen Schweigen fragte er:

– Und hast du eine Beziehung?

Sie blickte zur Seite und ließ vernehmen:

– Das ist noch länger her.

Er nickte nur.

Eines Morgens haben sie beim Frühstück beschlossen, in dem Wald nach weiteren essbaren Pflanzen oder sogar nach Holz für die möglichen Bauten zu suchen. Beide packten in die Ruck-säcke das, was sie für nötig hielten, und verließen gemeinsam ihre Unterkunft. Der Tag durfte heiß werden, schon zu dieser frühen Stunde war es richtig warm, deswegen krempelte Toni die Ärmel seines Hemdes so hoch, wie es ging, und machte ein paar Druckknöpfe auf, so dass der Ansatz seiner Brusthaare sichtbar wurde.

Er zog damit Rachels Blick auf sich. Seine Muskeln waren fest und geschmeidig, das hatte sie auch bei den Umarmungen gespürt, seine sonnengebräunte Haut war glatt, die dunklen Haare waren voll und glänzten im Sonnenlicht… Wie zum ersten Mal sah sie seine Kraft, körperliche und seeli-sche, und seine Bereitschaft, diese Kraft auch zu ihrem Wohl einzusetzen.

Und er war der einzige Mensch, der einzige Mann im Umkreis von vielen Lichtjahren…

Toni merkte, dass Rachel ihn intensiv betrachtete. Er legte seine Last ab, und als sie seinen Blick sah, ließ sie ebenfalls ihren Rucksack liegen und kam Schritt für Schritt ganz nah zu ihm. Sie hielt kurz inne, machte dann ohne Hast sein Hemd völlig auf, schob das Kreuz an seiner Kette etwas beiseite, beugte sich und legte ihren Kopf an die nackte Brust des jungen Mannes, als ob sie sein rasend pochendes Herz genau hören wollte. Er hielt den Atem an. Sie richtete sich wieder auf, schaute in seine Augen und ließ sich von ihm küssen.

Später lag er in seiner Schlafkabine, sein linker Arm war unter dem Kopf, mit dem rechten umarmte er Rachel – sie musste sich an ihn schmiegen, um nicht von dem schmalen Bett runter zu rutschen. Er dachte gerade mit Vergnügen daran, dass sie ohne Kleidung auch gut aussah, als er ihre Stimme hörte:

– Toni…

– Ja?

– Was haben wir gemacht?

Er drehte den Kopf zu ihr:

– Das, was wir wollten. Oder etwa nicht?

– Doch, schon…

Er streichelte ihren Kopf und fragte nicht nach.

Am nächsten Tag sagte Toni:

– Ich habe unsere Unterkunft nochmals genau angeschaut, sie kann erweitert werden. Etwas mehr Wohnraum täte uns gut.

– Eine gute Idee, aber ich weiß nicht, ob ich dabei helfen kann, schaffst du es denn alleine?

– In diesem Klima – ja. Wir brauchen nur den Schutz von Wind und Regen.

– Und was für einen Raum willst du bauen?

– Das davon ab, ob du einverstanden bist.

– Was willst du damit sagen?

– Ich habe an ein gemeinsames Schlafzimmer gedacht.

Rachel sog die Luft scharf ein. Nach einer Pause sagte sie:

– Du meinst, ob wir ein Paar werden.

Er schwieg einige Sekunden und antwortete dann:

– Ich würde sagen, wir sind bereits ein Paar – es sei denn, du willst das beenden.

Sie schüttelte unsicher den Kopf und sagte plötzlich das, was sie gerade dachte:

– Ich muss über mich selbst klar werden.

Er nickte:

– Wie du gesagt hast – Zeit haben wir ja. Und ich werde sowieso etwas davon brauchen, um die Baumaterialien zusammenzutragen.

Toni war fest entschlossen, Rachel die freie Entscheidung zu überlassen, und in den folgenden Tagen haben sie sich nur beim Essen gesehen, denn er verbrachte die ganze Zeit m Wald. Bei den üblichen abendlichen Umarmungen bemühte er sich, nur freundlich zu sein.

Dann sagte er wie nebenbei nach dem Frühstück:

– Ich habe alles, was ich brauche, zusammengetragen, und mache einfach einen Raum.

Rachel schwieg kurz und lächelte:

– Mach ein Schlafzimmer, wie du es wolltest.

Er schluckte und heftete seinen Blick an ihr Gesicht:

– Bist du dir wirklich sicher?

Sie kam zu ihm und umarmte ihn. Er atmete so tief durch, dass es fast schon ein Stöhnen war, erst da begriff sie, unter welchem Druck er in diesen Tagen stand. In einem Anfall von Reue küsste sie seine Lippen – und das Bauen wurde erstmals verschoben.

Um so fleißiger arbeitete Toni an den nächsten Tagen, und Rachel schaute ihm wie einem Zauberkünstler zu – er konnte mit den Reparaturwerkzeugen aus dem Shuttle und den Laborgeräten dicke Baumstämme präzise zu den Brettern schneiden und verbinden, die Abdeckplanen als Dichtungen und sogar als Ersatz für die Fensterscheiben benutzen, und eine Schiebetür installieren.

Sie wunderte sich so offen, dass er in einer Pause sagte:

– Weißt du, ich habe schon als Kind mit meinem großen Bruder gewettet, dass ich ein Baumhaus alleine machen kann – und gewann.

– Das ist echt toll. Und was war der Wetteinsatz?

– Eine Woche lang die Ställe alleine aus zu misten! – erklärte der stolze Erbauer und lachte.

Um sich auch an diesem Unternehmen zu beteiligen, übernahm Rachel das Kochen, für Toni machte sie immer eine doppelte Portion, die er auch brauchte. Dann erklärte er den Raum für fertig – sie wusste mittlerweile, wie hoch seine Ansprüche waren, und verließ sich voll auf ihn. Es gelang ihm, die beiden dicken Luftmatratzen miteinander fest zu verbinden, und nach der ersten Nacht in diesem gemeinsamen Bett begann für Toni und Rachel eine Art Flitterwochen.

Rachel musste sich selbst gegenüber zugeben, dass sie noch nie einen so guten Liebhaber hatte – nicht dass sie viele davon gehabt hätte. Und Toni machte ihr Komplimente! Sie wusste vorher gar nicht, wie angenehm es war, wenn der Mann, der neben ihr lag, über ihre Vorzüge sprach, mit wenigen Worten, aber mit viel Gefühl. Nach und nach traute sie sich, auch so zu antworten, und freute sich, dass es ihm so gut gefiel. Woher hatte sie nur diese Vorstellung, dass Reden nicht ins Bett gehört!

Toni seinerseits wunderte sich, wie scheu Rachel sein konnte, manchmal bezeichnete er sie (insgeheim natürlich) sogar als „verklemmt“, aber er stellte mit Genugtuung fest, dass er solche Hindernisse jedes Mal mit Geduld und Zuwendung überwinden konnte. Nach einer Weile revidierte er seinen Spruch von dem Tag, als die „Ziolkowski“ verloren ging, und dachte nicht mehr: „Ich hätte es viel schlimmer erwischen können“, sondern: „Ich hätte es kaum besser erwischen können“.

Eine weitere Überraschung für Rachel, die noch nie mit einem Mann zusammengelebt hatte, war die Tatsache, dass sie neben Toni besser schlafen konnte. Sie drehte sich abends immer hin und her, wälzte sich regelrecht, weil ihr so viele Gedanken durch den Kopf gingen – er dagegen rollte sich einfach ein und versank gleich im Schlaf. Sogar sein leises Schnarchen wirkte auf Rachel beruhi-gend, wie das Schnurren einer Katze. Nach und nach kuschelte sie sich im Dunkeln immer mehr an Toni; um eine bequemere Position für sich zu finden, zog sie sogar mal vorsichtig an seinem Arm oder Bein, und er folgte dieser Bewegung langsam und schwerfällig, ohne dabei auf zu wachen.

Der Sichtschutz an der improvisierter Dusche wurde abgebaut, und die zwei Verliebten spritzten sich gegenseitig mit Wasser an, prusteten, lachten und machten allen möglichen Blödsinn.

So vergingen fast zwei Monate. Eines Abends sagte Rachel zu Toni:

– Weißt du noch, wie ich damals gefragt habe, was wir getan haben?

– Selbstverständlich, – er war es inzwischen gewohnt, abzuwarten, was nach solchen Ouvertüren kommt.

– Also… nach Angaben des Multiscanners haben wir uns nun zu werdenden Eltern gemacht.

Sie dachte vorher viel darüber nach, wie er reagieren wird, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er, so wie jetzt, von einem Ohr bis zum anderen grinst und ruft:

– Schatz, das ist ja wunderbar!

– Bist du so sicher?

– Ja natürlich! Dann sind wir nicht mehr zu zweit, sondern ZU DRITT!

Er sah ihren Gesichtsausdruck, umarmte sie und wurde ernst:

– Für dich wird es anstrengend, Rachel, ich weiß, aber ich will dir helfen, wo es nur geht.

– Dann habe ich gleich eine Bitte.

– Was immer du willst.

– Diese Untersuchung habe ich selbst gemacht, aber ich will, dass du das ab jetzt übernimmst.

– Sehr gerne, mein Schatz.

Rachel dachte nach und sagte:

– Dann müssen wir noch die Tage von hier in irdische umrechnen, um die Entwicklung des Fötus zu beobachten.

Toni schüttelte den Kopf:

– Nicht nötig, ich führe schon die ganze Zeit den Kalender von der Erde.

– Wozu denn das?

Er wendete den Blick ab, und sie bohrte nicht nach.

Nach einer Pause sagte er nachdenklich:

– Es stellt sich noch eine Frage – möchtest du wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?

– Und du?

– Ich richte mich nach dir.

Rachel überlegte und schüttelte den Kopf:

– Lass es eine Überraschung sein!

Toni nickte und küsste sie.

Zuerst schien es so, als hätte sich nichts geändert, aber einige Tage später hörte Toni lautes Weinen im Gehege der Karnickel und rannte dorthin.

– Was ist los – hast du dir Weh getan?

– Nein! Schau mal, dieses Pärchen hat ihre Jungen aus dem Nest raus geführt – sie sind so süüüüß….

– Und was ist schlimm daran? – er nahm ihr tränenüberströmtes Gesicht in die Hände und blickte staunend in ihre Augen.

– Nicht schlimm! Aber ich habe gerade gedacht, dass meine Eltern sich so über dieses Enkelkind freuen würden, und.. uhuhu! Meine beiden Schwestern haben Kinder, und die Eltern wünschten so sehr, dass auch ich meine eigene Familie habe und mich nicht nur, so wie Tante Peggy, um meine Karriere und die Wissenschaften kümmere! Uuuuu…

Er drückte sie an sich:

– Schatz, das ist klar. Weine ruhig, deine Hormone spielen jetzt ein bisschen verrückt.

– Oh, du bist so lieb! Und meine Eltern würden dich auch lieb gewinnen, ganz sicher!

Diese Worte führten zum neuen Anfall von Heulen, und Toni hielt Rachel geduldig in den Armen.

Allmählich beruhigte sie sich und fragte:

– Meinst du wirklich, das es normal ist?

– Völlig normal, glaub‘s mir.

– Und es schadet dem Baby nicht, wenn ich so weine?

– Nein, das nimmt den Druck von euch beiden.

– Du bist lieb, – sie küsste ihn, und er küsste zurück.

Solche Anfälle von Weinen kamen weiterhin ab und zu vor, aber Toni hatte den Eindruck, dass schon die Tatsache, das sie weinen durfte, Rachel gut tat.

Eines Tages fragte sie ihn:

– Warum streiten wir uns nicht?

Er hob die Augenbrauen:

– Wenn dir danach ist…

– Nein, nein!

– Haben denn deine Eltern sich gestritten?

– Sehr selten, aber sie waren schon so lange verheiratet…

Sie überlegte kurz und sagte dann:

– Ich glaube, ich hatte immer die Vorstellung, dass die erste Zeit einer Beziehung unbedingt mit irgendwelchen Konflikten und Reibereien verbunden ist, deswegen habe ich gefragt.

Er dachte: „Weil wir hier vor größeren Herausforderungen stehen als eine Beziehung jemals sein könnte“, drückte es aber anders aus:

– Ich würde sagen, wir sind zu wertvoll füreinander – zumindest bist du das für mich.

– Ach, mein Lieber!

Sie umarmte ihn stürmisch. Er küsste sie auf die Wange, aber sie gab ihm einen leidenschaftli-chen Kuss, den er gern erwiderte.

Die Wochen vergingen, und Toni sagte:

– Wir müssen für dich die passenden Sachen drucken, ich meine, zum Anziehen.

– Ich weiß gar nicht, ob der 3-D-Drucker so was in seinem Programm hat.

Er dachte nach und sagte:

– Dann nehmen wir einige Laborkittel, schneiden Streifen aus einem und erweitern damit die anderen.

– Kannst du denn nähen?

– Du kannst es doch auch, wenn du Nadeln und Fäden in deiner Ausrüstung hast!

Rachel blickte zur Seite und murmelte:

– Ich habe sie noch nie benutzt…

– Ach so, – er grinste. – Ja, ich kann nähen.

Das fertige Werk von Toni versetzte Rachel in Staunen:

– Glaubst du wirklich, dass ich so dick werde??

– Zu weit ist besser als zu eng, – meinte er philosophisch und fragte nach einer Pause: – Der Altersunterschied zwischen dir und der jüngsten Schwester ist nicht groß, oder?

– Habe ich das erzählt?

– Nein, aber du weißt eindeutig nicht mehr, wie die Mama aussah. Also, kannst du den Kittel so tragen?

– Ja.

– Das ist die Hauptsache.

Der sechste Schwangerschaftsmonat ging zu Ende, und Rachel fing langsam an, zu begreifen, warum Toni mit dem Stoff der Kittel so großzügig umgegangen war.

An einem Abend strahlte Toni regelrecht etwas Schwermütiges aus. Er hatte draußen nochmals Feuer gemacht, saß jetzt davor auf einem der inzwischen zahlreich gewordenen Fellen und blickte unentwegt in die Flammen.

Rachel kam auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte:

– Musst du dich wieder abreagieren?

Er legte seine Hand über ihre und seufzte schwer:

– Ich weiß nicht, ob das was bringt…

– Dann erzähl mal – warte, ich komme gleich.

Sie holte ein Fell für sich und setzte sich auch ans Feuer.

Er blickte unsicher und stammelte:

– Ich… ich will dich nicht belasten…

– Toni, ich bin nicht krank, – sagte Rachel ernst. – Und das Baby ist nicht das einzig Wichtige in meinem Leben.

Er schluchzte, bedeckte kurz seine Augen mit Händen, und fing dann an:

– Weißt du…heute sollte die „Ziolkowski“ auf der Erde wieder ankommen.

– Aber bei den Forschungsschiffen weiß man das nie auf den Tag genau!

– Zumindest hat der Kapitän mir diesen Tag genannt, und ich ihn dann meinen Eltern. Siehst du… bei allen meinen Reisen habe ich meinen Eltern gesagt, wann ich zurückkomme, und habe diese Fristen immer eingehalten, um jeden Preis. Das wussten auch die Leute in meinem Verein, manche nannten mich sogar scherzhaft „Toni, das Uhrwerk“. Ich habe dir doch erzählt, wie ich den Kapitän in seinem Ferienhaus kennengelernt habe, und da sagte Gustavson…

– Gustavson? Der Admiral Gustavson, die Legende der Weltraumflotte?? Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen.

– Der Gustavson, ja, er brachte mich dorthin, also, er erwähnte diese meine Eigenart, und der Kapitän sagte mit einem Grinsen: „Für so einen liebevollen Sohn schicken wir auch einen Funk-spruch, falls wir uns verspäten!“.

Toni atmete tief durch und fuhr fort:

– Ich weiß ehrlich nicht, Rachel, ob ich so ein liebevoller Sohn war, aber heute Abend werden meine Eltern sich ganz sicher große Sorgen machen. Und in einigen Tagen… oder Wochen… werden sie denken, dass ich tot bin… und das bricht mir das Herz… Entschuldige, ich wollte dich nicht so belasten!

– Rede dir das von der Seele, – Rachel umarmte ihn so zärtlich und fürsorglich, dass er das Gefühl hatte, ihre mütterlichen Instinkte wären schon voll entfaltet – und da weinte er an ihrer Schulter.

Am Ende des siebten Monats sagte Toni:

– Rachel, wir müssen uns den Platz für die Geburt überlegen, die Katze meiner Mutter hatte dafür einen speziellen gepolsterten Kasten, aber für dich brauchen wir etwas anderes.

– Auf dem Boden?

Toni schüttelte den Kopf:

– Nicht so gerne, denn dann müsste ich mich zu dir die ganze Zeit beugen und auch noch mein Gleichgewicht halten.

– Was schlägst du dann vor?

– Das Bett.

– Aber dann wird es schmutzig…

– Wir können eine Abdeckplane als Schutz benutzen.

Sie heftete ihren Blick dermaßen an ihn, dass er sich wunderte, und sagte nach einer Pause nach-denklich:

– Was würde ich nur hier alleine ohne dich tun…

Er murmelte:

– Auf alle Fälle jetzt kein Kind erwarten, – und beide lachten.

Danach wurde Toni wieder ernst:

– Ich glaube, für die wäre es besser, nicht ganz flach zu liegen.

– Und wie willst du das erreichen?

Als Antwort rollte er mehrere Felle zusammen und hantierte so lange mit ihnen und mit dünnen Seilen, bis ein großer keilförmiger Kissen entstand, und Rachel probierte ihn aus.

Einige Tage später sagte Toni:

– Ich habe mir noch was überlegt…

– Ja?

– Wenn das Kind da ist, will ich mit ihm Italienisch sprechen, weil es meine Muttersprache ist.

Rachel nickte:

– Natürlich, die Zweisprachigkeit ist immer gut, und ich höre mich dann auch rein. Übrigens – du musst gar nicht warten, kannst jetzt schon sprechen.

– Wirklich??

– Unser Kind nimmt jetzt schon Geräusche wahr, wenn auch etwas gedämpft, nicht nur innerhalb meines Körpers, sondern auch von außen.

Er kniete und umarmte ihre Hüften:

– Oh, mia cara, ich meine, meine Liebe!

Sie streichelte seinen Kopf.

Toni nahm es wirklich ernst und erzählte seitdem dem ungeborenen Kind jeden Abend ein Märchen. Rachel hatte schon vieles von seinen Gefühlen mitbekommen, aber das war doch etwas Neues – die Melodie der Sprache, in der er sich wohl besser ausdrücken konnte, die wechselnden Tonlagen für verschieden Figuren, und der friedliche Abschluss. Und mit welcher Zärtlichkeit sagte Toni jedes Mal nach einem Märchen „Buona notte carissima”!

Die errechnete achtunddreißigste Woche war vorbei, laut der medizinischen Datenbank konnte das Baby nun jeden Tag kommen. Als Rachel diese Tatsache bewusst wurde, fragte sie:

– Warst du schon mal bei einer Geburt?

– Bei den Schweinen – natürlich, mehrmals.

– Und wie war es so?

– Nichts Dramatisches. Das Muttertier ging hin und her, legte sich mal hin, wälzte sich, stand wieder auf und legte sich wieder, und irgendwann kamen die Ferkel. Dann waren wir zur Stelle, nabelten die Kleinen ab und brachten sie zu den Zitzen.

– Konnte das Schwein denn nicht selber werfen?

– Doch, aber in der Natur geht auch manches Jungtier verloren – wenn es zufälig unter das Bein der Mutter gerät, sie kann sich ja nicht beugen und nachschauen, oder wenn die Nabelschnur um den Hals liegt, oder sonst was. Die Menschen wollen aber alle Kleinen durchbringen, deswegen helfen sie nach.

Er überlegte kurz und fügte hinzu:

– Manchmal ist auch echte Geburtshilfe nötig, das machte dann mein Vater.

– Wie denn?

– Per Hand, natürlich. Er zog seine speziellen sehr langen Handschuhe an, griff rein und holte die Ferkel.

Rachel schwieg ziemlich lange und sagte dann:

– Das alles klingt nach viel Dreck.

Toni schüttelte den Kopf:

– Das Entstehen des Lebens ist nicht dreckig. Sicher ist da Fruchtwasser, Blut, Nabelschnüre und so weiter, aber das ist kein Dreck.

Nach einer Pause fuhr er munter fort:

– Mit der Katze war das ganz anders. Wie ich sagte, hatte sie einen gepolsterten Kasten, und wenn es wirklich soweit war, dann wurde der Kasten unter einen Stuhl gestellt, eine Decke kam drauf, so das eine Art Höhle entstand, und jemand aus der Familie musste auf diesem Stuhl sitzen und seine Hand nach unten halten. Zum Glück war die Katze in dieser Situation nicht wählerisch, und wir konnten uns abwechseln.

– Und wenn ihr das nicht gemacht hättet?

– Dann gäbe es ein lautes Miauen, bis ein Mensch nachgegeben hätte! Das haben die Schwestern uns erzählt.

– Also hat die Katze euch kommandiert – aber wozu?

– Wahrscheinlich damit sie sich nicht alleine fühlte.

Rachel warf einen schnellen Blick, weil Toni genau diese Worte an jenem Abend sagte, als sie sich das erste Mal umarmten, aber er war in Gedanken nur bei der Katze.

Es dämmerte, als er Rachels Stimme hörte:

– Toni, wach auf! Wach bitte auf!

Er drehte sich zu ihr.

– Toni… es ist soweit.

Er setzte sich ruckartig im Bett, rieb die Reste des Schlafes aus seinen Augen und streichelte ihre Schulter:

– Das ist gut, Schatz, das ist gut. Ich hole den Multiscanner.

Beim Anblick der Daten stieß Toni einen Pfiff aus:

– Die Wehen sind sogar nicht einzeln, sondern recht regelmäßig!

– Das geht schon seit etwa zwei Stunden so.

– Und warum hast du mich nicht früher geweckt?

– Weil ich wollte, dass du dich noch etwas ausruhst.

– Hm… danke. Es ist eigentlich schon Morgen, fünf Uhr. Magst du was essen?

Sie schüttelte den Kopf, und er nickte:

– Dann mache ich später was für mich. Und du gehst am besten unter die Dusche, zur Entspan-nung, ich komme sicherheitshalber mit.

– Aber wir wollten die Energie sparen…

– Heute definitiv nicht, dein Wohlbefinden ist wichtiger. Übrigens, willst du ein Schmerzmittel haben?

Sie schüttelte den Kopf.

Gut eine Stunde später sagte Toni:

– So, die Wehen kommen alle acht Minuten, alles läuft gut. In der Datenbank wird noch etwas empfohlen.

Er nahm eine Packung aus dem Arzneischrank und reichte ihr. Sie schaute die Packung an:

– Ein Einlauf?

– Ja. Die Gebrauchsanweisung steht auch drauf, ich glaube, das kannst du auch selbst machen. Wenn nicht, ruf mich, das ist wirklich kein Problem für mich!

Sie schaute nachdenklich auf die Packung in ihrer Hand… und krümmte sich. Er hielt sie fest, bis die Wehe vorbei war. Dann nickte sie, löste sich aus seinen Armen und ging.

Als sie wieder kam, nahm er die zweite Packung aus dem Arzneischrank:

– Ich bin bald wieder da, leg dich bitte hin.

– Was hast du vor?

– Dasselbe.

Sie hob die Augenbrauen:

– Etwa aus Sympathie?

– Nein, damit ich dich später nicht allein lassen muss… für einige Minuten.

Sie schüttelte den Kopf und lächelte:

– Du denkst an alles.

Er lächelte auch:

– Das muss ich.

Die Zeit verging, aber die Eröffnung des Muttermundes wurde immer langsamer. Toni wusste nicht warum – bis er merkte, dass Rachel, die gerade mit einer Hand an der Wand und anderer an dem riesigen Bauch stand, ihre Zähne zusammenpresste und sich verkrampfte. Dagegen musste er etwas tun!

Er versuchte einzureden:

– Entspanne dich – ja, ich weiß, dass das jetzt schwierig ist. Du kannst liegen, hocken, auf allen Vieren stehen, wenn du dich so besser fühlst, oder halte dich an mir fest, das wird dir bestimmt gut tun. Wenn du willst, kannst schreien, schimpfen, meinetwegen auch mich beschimpfen…

– Willst du denn, dass ich dich beschimpfe? – keuchte sie.

Er sagte langsam und mit etwas Nachdruck:

– Ich will, dass du dich so richtig gehen lässt. Du hast immer alle Probleme mit strenger Selbst-disziplin gelöst, aber jetzt ist es anders, ganz anders.

Nach einer Pause fügte er etwas leiser hinzu:

– Hab keine Angst, die Kontrolle zu verlieren, ich bin ja da… Bitte, Rachel, tu es für das Kind.

Sie presste die Lippen zusammen, schaute ihn fest an und warf sich regelrecht auf ihn mit einem Stöhnen. Er hatte seine Mühe, um nicht zu kippen, schaffte es aber – auch durch die Gewissheit, wie wichtig das jetzt war! – und hielt sie fest. Als sie sich wieder etwas entspannen konnte, sagte er:

– Denk nochmal über die Schmerzmittel nach.

– Schaden sie nicht dem Baby? – flüsterte sie.

Da war also noch ein Grund für ihre Verkrampftheit! Dieses Hindernis musste schleunigst beseitigt werden. Er sagte:

– Nein, wir haben Medikamente, die man gezielt dosieren und anbringen kann. Komm, – er führte sie zum Bett.

Nachdem die Spritze offensichtlich wirkte, schaltete er nochmal den Multiscanner ein. Endlich ging es wieder voran!

Irgendwann kniete Toni vor dem Fußbettende und stützte sich auf die Ellenbogen. Rachel lag auf dem Fellkissen, ihre Füße standen zuerst auf dem Bett, dann auf Tonis Schultern. Sein Körper schickte Schmerzsignale, die Belastung auf die Ellenbogen wurde deutlich größer, aber all das war nicht so wichtig, denn sie brauchte in Presswehen eine Stütze. Er achtete nur darauf, dass sie ihn nicht wegschob und dass seine Hände sich gut genug bewegen konnten, und freute sich über sein nicht geringes Gewicht.

Und dann kam das Baby, direkt in seine Hände, und passte sehr gut rein… so klein, und doch schon ein richtiger Mensch… ein Mädchen. Sie schrie eigentlich nicht, machte aber ziemlich laute Geräusche, die Toni an die neugeborenen Kätzchen erinnerten. Gleichzeitig merkte er, dass Rachels Schreie sich wie auf Knopfdruck legten, dass ihre Beine von seinen Schultern runter rutschten und einfach liegen blieben. Er lächelte mit Tränen in den Augen, sagte leise: „Ciao, mia carissima“ und drückte die Neugeborene instinktiv zärtlich an sich. Der kleine Mensch griff nach dem großen und ließ einen winzigen Abdruck auf dem Hemd…

Toni schaute das Kind nochmals von oben bis unten an und rief: „Rachel, es ist ein Mädchen! Ich gebe sie dir gleich!“. Er nabelte seine Tochter ab, wischte sie vorsichtig und wickelte in ein weiches Tuch, das zu seiner Rechten vorbereitet lag; dann er richtete er sich auf, wobei seine einge-schlafenen Beine ihm beinahe den Dienst versagt hätten. Trotzdem hielt er das Gleichgewicht – nun gleich für zwei Personen! – und ging die Paar Schritte zum Kopfende des Bettes.

Rachel sah erschöpft und verschwitzt aus. In dieser Zeit, in der er ihr Gesicht nicht sah, schien sie einen Marathon gelaufen zu haben. Aber ihre Augen leuchteten und wurden feucht, als sie die Kleine sah, sie lächelte, streckte die Arme aus und machte sogar eine Bewegung zum Aufrichten, was Toni mit der freien Hand sanft verhinderte. Er legte das Baby zu Rachels Brust, und sie flüster-te:

– Sie ist wunderschön…

– Ja, das ist sie, – er lächelte. – Und sie hat bestimmt Hunger.

– Ich möchte sie nur noch ein bisschen anschauen.

Das tat sie auch, und sagte leise:

– Sie hat dunkle Haare… ich dachte, ganz kleine Babys wären kahlköpfig… und auch dunkle Augen!

Er lächelte.

– Sie ist wirklich deine Tochter, Toni!

– Unsere Tochter, Rachel. Sie hat bestimmt auch viel von dir.

Rachel gab dem Mädchen die Brust; sie hatte tatsächlich Hunger, und die Mutter lächelte gerührt. In ihre Augen kamen Tränen, die sie nicht abwischen wollte.

Dann sagte sie plötzlich beunruhigt:

– Toni, was passiert da jetzt mit mir?

Er fragte leise:

– Weißt du es nicht mehr? Der Mutterkuchen muss noch abgehen.

– Stimmt, das habe ich ganz vergessen… Ich sah das Baby und dachte: „Es ist vorbei“.

– Ist es auch bald. Das tut nicht so weh.

Toni ging wieder zu seinem Platz. Als der Mutterkuchen kam, schaltete der frischgebackene Vater nochmals den Multiscanner ein, alles war in Ordnung. Er räumte auf, wischte Rachel behutsam mit einem feuchten Lappen ab und zog ihr ein Höschen mit einer Binde an. Dann nahm er vorsichtig den großen Kissen unter Rachels Rücken weg. Nach alldem platzierte er sich endlich neben seiner kleinen Familie – das war eher ein Hinfallen als ein Hinlegen. Sicher hätte er alles Nötige auch weiter getan, stundenlang, wenn es sein müsste, aber jetzt war er echt dankbar für die Möglichkeit, schlapp zu machen.

Er fragte:

– Ist sie satt?

– Scheint so… guck mal, sie ist eingeschlafen!

Er gähnte ausgiebig und sagte:

– Ich kann sie sehr gut verstehen.

Rachel lachte leicht:

– Ja, wir brauchen jetzt alle unsere Ruhe. Komm, – sie rutschte so, dass er genügend Platz zum Ausstrecken hatte.

– Warte bitte, – er stand schwerfällig auf und ging. Sie schaute ihm verwundert hinterher und lächelte, als er mit einem Glas Wasser in einer Hand und einer vollen Flasche in der anderen wieder kam. Er stellte die Flasche in der Reichweite ab und gab ihr das Glas.

Sie trank es leer und sagte leise:

– Du denkst wirklich an alles.

– Jetzt aber nicht mehr! – verkündete er, stellte das Glas zu der Flasche und legte sich bequem neben ihr.

Und so schlief nicht nur das kleine Mädchen, sondern auch ihre Eltern – wie Babys.

Zwei Jahre später

– Toni, ich vertraue dir, und ich glaube, dass ich die Geburt auch diesmal packe, aber was ma-chen wir mit Lisa?

Er nickte:

– Ich habe schon darüber nachgedacht, und finde, dass wir ihr am besten ein sorgfältig dosiertes Schlafmittel geben.

– Ist es dein Ernst??

– Natürlich. Überlege mal – keiner von uns wird sich in dieser Zeit um sie kümmern können. Außerdem… sie ist noch so klein, sie kann nicht verstehen, was da passiert, und wird möglicher-weise sogar etwas Negatives für das Geschwisterchen empfinden. – Nach einer Pause fügte er hinzu: – Und für dich wird es schwieriger, wenn du die ganze Zeit daran denken wirst, dein Kind nicht mit den Schreien zu erschrecken.

Rachel seufzte:

– Ja, das klingt vernünftig… Zum Glück werden wir nicht so viel Schlafmittel brauchen, sie hat ja den festen Schlaf von dir.

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, und Toni fragte fürsorglich:

– Was beschäftigt dich?

– Ich habe gedacht… was ist, wenn uns hier niemand findet?

Durch seinen Kopf huschte der Gedanke, dass, wenn andere Menschen diesen Planeten bezieh-ungsweise dieses Sonnensystem erkunden wollten, dann wären die möglichen Konsequenzen viel gravierender. Aber das wollte der fast zweifache Vater und Ehemann ohne Trauschein lieber nicht aussprechen; stattdessen streichelte er die Schulter seiner Frau:

– Mach dir keine solchen Sorgen. Wir haben uns gut eingerichtet und können noch mehrere Jahre verbringen, bis unsere Kinder andere Menschen wirklich brauchen werden.

Sie umarmte ihn.